Jugendliche verstehen

Intro

Wie war das nochmal als wir Teenies waren? Selbst wer sich erinnert, versteht Jugendliche nicht automatisch. Wir verstehen ja noch nicht mal unser altes Ich, sagen Psychologen wie Lars Halse Kneppe: «Wir erinnern uns an unsere Taten und sehen wie in einem Film konkrete Szenen und Geschehnisse vor uns, allerdings gelingt es uns dabei nicht mehr, genau nachzuvollziehen, warum wir getan haben, was wir getan haben. Und somit wissen wir auch nicht mehr, wie wir es erlebt haben.»

Wollen wir wissen, wie Jugendliche denken und fühlen, fragen wir sie am besten selbst:

Im Alter von etwa 9 bis 18 Jahren werden Kinder zu jungen Erwachsenen. Es ändert sich so viel, dass sie sich selbst oft nicht mehr verstehen.

Dieser Lernbaustein gibt Einblick in diese wichtige Entwicklungsphase und hilft, Jugendliche zu verstehen: Was motiviert sie, mit welchen Herausforderungen kämpfen sie? Und wie können wir sie dabei unterstützen?

Basics

Ab wann hört man eigentlich auf, «Kind» zu sein und zählt zu den «Jugendlichen»? Das wird nicht nur für verschiedene Lebensbereiche und in verschiedenen Ländern unterschiedlich definiert, sondern hängt auch stark von der individuellen Entwicklung und Wahrnehmung ab. Bei den Mädchen geschieht es in der Regel ein bis zwei Jahre früher. Auf jeden Fall aber passiert es nicht von heute auf morgen, sondern in einem Prozess von mehreren Jahren.

Dieser setzt meist irgendwann zwischen 9 und 12 mit dem Beginn der Vorpubertät ein, dem Zeitabschnitt, in dem wir von «Tweens» sprechen («in-between»: zwischen Kind und Teenager). Dann folgt die Hochphase zwischen ca. 13 und 15, in der die Veränderungen besonders markant sind. Mit der Spätphase zwischen ca. 16 und 18 endet typischerweise die Pubertät.

Während der Pubertät macht nicht nur das Gehirn einen Totalumbau durch, sondern auch körperlich, sozial und emotional ändert sich enorm viel. Das folgende Video fasst die Veränderungen aus verschiedenen Perspektiven zusammen:

Dass die Beziehung zu Gleichaltrigen ins Zentrum rückt, ist ein wichtiges Merkmal der Pubertät. Was diese Lebensphase sonst noch prägt, entdeckst du, wenn du mit der Maus über das folgende Bild fährst:


Im nächsten Kapitel erfährst du, wie sich diese Veränderungen auf die jungen Sportlerinnen und Sportler in deinen Aktivitäten auswirken. Und wie du sie in ihrer Entwicklung begleiten und fördern kannst.

Prinzipien

Stress durch Totalumbau im Gehirn

Der biochemische Dauerstress im Gehirn beeinträchtigt zeitweise die Lern- und Leistungskapazität. Das äussert sich häufig in einer gewissen Trägheit. Von aussen kann es als Mangel an Motivation missverstanden werden, wenn Jugendlichen plötzlich «alles zu viel ist».

Tatsächlich ist es für Betroffene frustrierend – sie wollen durchaus, können manchmal einfach nicht. So geht es z.B. Michel, wenn er sich mehr Selbstdisziplin fürs Fitnesstraining wünscht:

Durch den rasanten Umbau im Gehirn fühlen sich Jugendliche häufig schon von Kleinigkeiten genervt. Mangels funktionierender Verknüpfungen können sie nicht immer passend reagieren. Anders gesagt, sie werden «zickig», «bockig» oder gehen an die Decke. Dabei gehen sie sich selbst auf die Nerven:

Die Veränderungen im Gehirn bringen auch Vorteile: Ältere Kinder und Jugendliche können sich zunehmend länger konzentrieren, Informationen schneller verarbeiten und komplexe Situationen besser analysieren. Auch ihr abstraktes und räumliches Denken verbessert sich.

Wollen ist nicht immer gleich können.

Wie kannst du Jugendliche in Situationen unterstützen, in denen sie blockiert scheinen?

Manchmal ist es zum aus der Haut fahren.

Wie kannst du mit den Launen, schnell wechselnden Gefühlen und emotionalen Ausbrüchen von Pubertierenden umgehen?

Das Gehirn entwickelt sich rasant.


Wie kannst du das im Training nutzen und fördern?

Suche nach Identität und Orientierung

In der Pubertät lösen sich Jugendliche von ihren Eltern ab und müssen anderswo emotionale Sicherheit finden. In dieser Phase sind sie besonders verletzlich und oft zutiefst verunsichert. Ihr Selbstwertgefühl kann ohne erkennbaren Grund in den Keller sacken, was sich auch auf den Sport auswirkt. Da nimmt man sich auch mal Kritik mehr zu Herzen:

Jugendliche orientieren sich stark an Gleichaltrigen und «Gleichgesinnten». Sie suchen soziale Anerkennung und ihren Platz in der Gesellschaft. Dies führt auch innerhalb der Sportgruppe zu neuen Dynamiken. Es kann sich in starkem Geltungsdrang, vermehrten Konflikten und aggressivem oder extremem Verhalten äussern. Gruppendruck und der Wunsch nach Zugehörigkeit beeinflussen das Verhalten stark.

Um im Leben und im Sport erfolgreich zu sein, müssen Jugendliche ihre individuellen Stärken entwickeln und eigene Wege finden. Dazu gehört auch, dass sie experimentieren, Grenzen ausloten und Risiken eingehen. Dabei brauchen sie Begleitung und erwachsene «Sparring-Partner», wie der Sozialpädagoge Jesper Juul es nennt. Ausgerechnet der Teil im Gehirn, in dem Risiken und Konsequenzen abgeschätzt werden, entwickelt sich nämlich zuletzt.

Zu Beginn der Pubertät rücken oft die Geschlechter auseinander; Mädchen schliessen sich zu kleinen Gruppen zusammen, Jungen eher zu grösseren. Gleichzeitig kommt es zu ersten romantischen Beziehungen. Der Kinderarzt Remo Largo bezeichnet Vereine als soziale Integratoren, wo Jugendliche Beziehungen knüpfen, Aufgaben und Verantwortung übernehmen, Vorbilder finden und das andere Geschlecht kennenlernen können. Häufig stünden für sie die soziale Interaktion im Vordergrund und nicht die Aktivität an sich.

Aussen cool, innen unsicher.

Wie kannst du in der sensiblen Phase der Pubertät das Selbstwertgefühl der Jugendlichen stärken?

Sehen und gesehen werden.

Wie kannst du noch Einfluss nehmen, wenn die Peergruppe der Massstab ist?

Wurzeln und Flügel.

Wie kannst du Jugendliche begleiten, ohne ihnen im Weg zu stehen, und ihnen in Jesper Juuls Worten ein guter «Sparring-Partner» sein?

Entwicklung eigener Werte

Ältere Kinder und Jugendliche bringen zunehmend eigene Haltungen und Wertvorstellungen mit ins Training. Bedürfnisse und Persönlichkeitsmerkmale werden spezifischer oder zeigen sich stärker. Sie hinterfragen, reflektieren und wollen eigene Entscheidungen treffen. Und sie schätzen es, wenn man ihnen zuhört und sie ihre Meinung sagen dürfen:

Interessen und Ziele werden individueller und somit auch die Motive fürs Bewegen und Sporttreiben. Gemäss dem Kinder- und Jugendbericht von «Sport Schweiz 2020» zählen Stressabbau, Gesundheit und figurorientierte Gründe ebenso zu den wichtigsten Motivatoren wie sportliche Ziele. Hauptargument für eine Vereinsmitgliedschaft ist neben regelmässigem Training auch Kameradschaft. Die Spannweite der unterschiedlichen Bedürfnisse ist enorm.

Der Evolutionsbiologe Ralph Dawirs beschreibt die Pubertät als «Bioreaktor für zukunftsweisende Innovationen», Remo Largo als «Jungbrunnen für die Gesellschaft».


Was bedeutet das konkret für dich?

Allen gerecht zu werden, scheint bei der enormen Vielfalt an Bedürfnissen eine schier unmögliche Herausforderung.


Wie schaffst du es, Jugendliche individuell zu motivieren und zu fördern?

Viele Jugendliche steigen beim Schulstufenübergang oder Schulabschluss aus dem Sport aus.


Wie kannst du sie dabei unterstützten, sportlich aktiv zu bleiben?

Herausforderungen durch körperliche Veränderungen

Der kindliche Bewegungsdrang nimmt in der Pubertät stark ab, zuweilen auch recht abrupt. Bei entsprechender (zunehmend extrinsischer) Motivation können Jugendliche durchaus Vollgas geben – «Chillen» und «Abhängen» werden nun aber ebenso wichtig.

Das konditionelle Leistungsvermögen nimmt stark zu und kann gezielter trainiert werden. Die Veränderung passiert allerdings unterschiedlich schnell und stark. Das führt zu enormen Unterschieden innerhalb einer Altersgruppe.

In Wachstumsphasen entwickelt sich das Skelett schneller als die Muskeln, und das Gewebe wird sehr empfindlich; Wachstumsschmerzen sind das häufige Resultat. Rumpf und Extremitäten wachsen nicht gleich schnell; Mädchen und Jungen müssen sich an ständige Veränderungen von Gewicht und Proportionen gewöhnen. Dies kann zu Verunsicherung, Überforderung und zeitweiliger Leistungseinschränkung führen.

Durch die ständige Veränderung des eigenen Aussehens verändert sich laufend die Selbstwahrnehmung. Jugendliche betrachten ihr Aussehen in der Regel äusserst kritisch und reagieren sehr empfindlich auf wertende Blicke und Kommentare. Im folgenden Bildervergleich siehst du, wie markant die Veränderungen in der Hochphase der Pubertät sein können:

Hormonell bedingte Veränderungen wie Körperhaare, Pickel, vermehrtes Schwitzen, neue Körpergerüche, Stimmbruch, Brustwachstum, erste Samenergüsse und Eintritt des monatlichen Zyklus mit der Regelblutung beeinflussen Stimmung, Motivation und Leistung.

Vor allem Frühentwickelte empfinden die körperlichen Veränderungen häufig als peinlich und unangenehm, während Spätreife für deren Ausbleiben mitunter zur Zielscheibe werden. Besonders Mädchen in der Pubertät wenden sich oft vom Sport ab, weil sie sich nicht mehr wohl oder sicher in ihrem Körper fühlen.

Plötzlich vorbei mit der kindlichen Leichtigkeit.

Wie kannst du Jugendliche dabei unterstützen, Sport und Bewegung nachhaltig in ihrem Leben zu verankern?

Aufgepasst im Wachstum.

Wie schaffst du optimale Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung?

Hinschauen, aufbauen.

Wie kannst du heranwachsende Jugendliche dabei unterstützen, sich selbst zu akzeptieren und wohl in ihrer Haut zu fühlen?

Zeitpunkt, Verlauf und Dauer der Pubertät sind sehr verschieden. Die grosse Herausforderung besteht darin, den enormen Unterschieden in einer Sportgruppe gerecht zu werden. Oder vielmehr sich einzugestehen, dass niemand diesem Anspruch vollkommen gerecht werden kann – und darauf zu vertrauen, dass Jugendliche uns in unserer Unvollkommenheit genauso akzeptieren wie wir sie.

Foto von drei Jungendlichen die gemeinsam auf ein Smartphone sehen. Sie lachen.

Good Practice

Gegenseitiges Vertrauen und eine gute Beziehung sind das beste Rezept, um Jugendliche zu begleiten und optimal zu fördern. Jesper Juul plädiert für eine gleichwürdige Beziehung und Kommunikation (bereits mit kleinen Kindern); dem Gegenüber werden zwar nicht die gleichen Rechte, wohl aber die gleiche Würde zugesprochen. Kinder und Jugendliche sollen jederzeit als vollwertige Menschen mit ihren individuellen Bedürfnissen und Kompetenzen behandelt werden.

Der Psychologe Lars Halse Kneppe gibt in seinem Buch «Im Kopf eines Teenagers. So verstehen Eltern, was Jugendliche bewegt» Tipps, wie wir Erwachsenen erfolgreich mit Jugendlichen kommunizieren und in Beziehung treten. Ein paar davon sind hier zusammengefasst:

Achte darauf, was du sagst, tust und ausstrahlst. Sprich positiv über dich und andere; Jugendliche reagieren empfindlich und beziehen alles auf sich. Stell klar, wenn negative Gefühle deinerseits nicht mit ihnen zu tun haben.

Sei verlässlich und zeig Jugendlichen, dass du sie akzeptierst und für sie da bist. Auch wenn sie Mist bauen oder sich unmöglich benehmen.

Hör zu und zeig ehrliches Interesse. Indem du das Gesagte in ihrer Sprache zusammenfasst, fühlen sie sich verstanden und ernst genommen. Häufig brauchen sie keine Lösungen, sondern Verständnis und Fürsorge.

Bemüh dich ehrlich, sie zu verstehen und gib zu, wenn du es nicht kannst. Lass verschiedene Perspektiven nebeneinanderstehen, statt alles auszudiskutieren. Bedanke dich für ihre Gesprächsbereitschaft.

Aggression hat häufig mit Angst vor Ablehnung zu tun. Eine «Null Bock»-Attitüde mit Versagensängsten und Angst vor Statusverlust. Übermässige Coolness ist meist eine Rüstung, die Unsicherheit verbergen soll. Geh empathisch mit solchen Haltungen um.

Betone ihre Stärken und Ressourcen. Trau ihnen zu, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Lass sie durch gezielte Fragen selbst auf Lösungen kommen. Zeig, dass du an sie glaubst und ihnen vertraust.

Lass sie wissen, dass ihre Gefühle okay sind und sie damit nicht allein sind. Dass viele sich in dem Alter anders, einsam und unverstanden fühlen.

Vereinzelt können Jugendliche in der Pubertät in eine schwerwiegende psychische Krise geraten. In solchen Fällen ist es gut, die Jugendlichen darauf anzusprechen und sie zu ermuntern, die Eltern um Hilfe zu bitten oder andere Vertrauenspersonen (z.B. Schulsozialarbeiterin, Vertrauenspsychologe) beizuziehen. Weise sie auch auf Hilfsangebote wie z.B. 147.ch von Pro Juventute hin und motiviere sie, davon Gebrauch zu machen.

Willst du wissen, was Jugendliche ganz konkret von dir brauchen, frag sie. Das folgende Video zeigt, dass sie ihre Wünsche gut in Worte fassen können:

Auch erfahrene Leiterinnen und Leiter sind eine gute Quelle für Tipps. Hier ein paar Beispiele:

Reflexion

Ronja Fankhauser hat Tagebucheinträge von Jugendlichen analysiert. Im «Das Magazin» vom 13.06.2020 schreibt Ronja:

«Und wenn wir als Teenager lernen, dass unsere Sorgen nicht echt sind, wenn unsere Gefühle nicht ernst genommen und als Überdramatisierung abgetan werden, dann merken wir uns das. (…) Wir stumpfen ab, passen uns an, schweigen. Dann sind wir erwachsen, und wir möchten nicht mehr darüber nachdenken, wie es uns mit vierzehn ging, wir möchten nicht wissen, welche Gewohnheiten wir übernommen haben, wir haben nie gelernt, wie wir uns selber reflektieren können. Wir kriegen einen Job und eine Ehe und Kinder, die wir wieder genau so behandeln, wie wir behandelt wurden.»

Was geht dir durch den Kopf, wenn du das liest?

Wie zeigst du als J+S-Leiterin oder -Leiter «Tweens» und Teenagern, dass du das, was sie erleben, ernst nimmst?

Quiz

Los geht's! Quiz starten und Wissen checken.

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Transfer

Die Dynamik in einer Gruppe ist kein Zufall. Wie sind die Rollen in deiner Gruppe verteilt? Wie interagieren sie miteinander, und wie beeinflusst das die Stimmung und Leistung? Bist du zufrieden oder möchtest du etwas ändern? Tipps und Spielformen zur Team- und Beziehungsgestaltung auf «cool and clean» helfen dir, die Gruppendynamik positiv zu beeinflussen.

Wenn die Pubertät ein Bioreaktor für zukunftsweisende Innovationen und ein Jungbrunnen für die Gesellschaft ist, kannst du sie auch nutzen, um deine Unterrichtsformen und Aktivitäten weiterzuentwickeln. Überleg dir, wie du bei nächster Gelegenheit Feedback von deinen Jugendlichen einholen kannst – oder frag sie gleich selbst nach Ideen dazu.

Quiz

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